Gruppenlaufzeit Verzerrungen


Über die Wahrnehmbarkeit von Gruppenlaufzeitverzerrungen unter Berücksichtigung des Abhörpegels
und der Anwesenheit von harmonischen Verzerrungen

© Oliver Mertineit




Es besteht ein alter Widerstreit zwischen verschiedenen Schulen des Entwurfs von Lautsprechersystemen darüber, inwieweit Verzerrungen der Gruppenlaufzeit (GLZ) hörbar sind. Allmähliche Phasendrehungen innerhalb des Hörfrequenzbereiches scheinen harmlos zu sein, während ausgeprägte Diskontinuitäten der GLZ in bestimmten Frequenzbereichen deutliche Veränderungen der wahrgenommenen Qualität des Signals bewirken können. Bis zu welcher Schwelle Schwankungen der GLZ dabei ohne Auswirkungen auf die empfundene Klangqualität bleiben, geht aus unterschiedlichen Untersuchungen innerhalb der letzten Jahrzehnte nicht eindeutig hervor. Unser Gehör ist für GLZ Verzerrungen nicht in allen Frequenzbereichen gleich empfindlich. Die oft als Maßstab herangezogenen Untersuchungen von Blauert/Laws [1] kommen zu den folgenden frequenzabhängigen Schwellenwerten:


500 Hz3,0 ms
900 Hz bis 3 Khz0,5 ms
4 Khz  0,4 ms
7 Khz1,1 ms


Die Form der Darbietung der Signale, etwa über Kopfhörer oder über Lautsprecher, die Qualität der Raumakustik bei Lautsprecherwiedergabe sowie der Charakter der dargebotenen Signale selbst führen u.a. zu Abweichungen zwischen unterschiedlichen Untersuchungen. Das Institut für Rundfunktechnik in München (IRT) kommt jedoch in einer neueren Studie [2] zur Wahrnehmbarkeit von GLZ Verzerrungen zu einer außerordentlich strengen Empfehlung für die Konstanz der Gruppenlaufzeit künftiger Regielautsprecher.

Die genannte Studie gibt auch einen kurzen Überblick über die in vorangegangenen Experimenten ermittelten Schwellenwerte und deren z.T. erhebliche Abweichungen untereinander. Laut IRT Studie sollen Regielautsprecher im Frequenzbereich 500 Hz ... 10 Khz eine Abweichung der Gruppenlaufzeit von maximal +/- 0,2 ms aufweisen. Dies ist ein Wert, der mit üblichen dynamischen Mehrwegelautsprechern in der Praxis kaum einzuhalten ist.

Die festgelegte Schwelle wird im angegebenen Frequenzbereich mit üblicher Lautsprechertechnik leicht um ein Vielfaches überschritten. Die Streuung in den bisher für GLZ Verzerrungen gefundenen Wahrnehmungsschwellen legt jedoch die Vermutung nahe, daß weitere Faktoren für die Hörbarkeit von GLZ Verzerrungen existieren, welche bisher nicht genau genug umrissen wurden. Ein von Lee/Geddes [3] durchgeführtes Wahrnehmungsexperiment ist in diesem Zusammenhang besonders interessant: Es wurden vergleichende Tests der Wahrnehmbarkeit veränderter Gruppenlaufzeit bei gleichzeitiger Anhebung des Hochtonbereiches durchgeführt. Dabei wurden Hochtonanhebung und Gruppenlaufzeit variiert. Die Wahrnehmungsschwellen für das Vorhandensein der so charakterisierten Kammfilter im Signalweg wurden gegenüber dem unveränderten Stimulus ermittelt.

In mehreren Durchgängen wurde dabei der absolute Schallpegel im Gehörkanal von 71dB bis 80dB stufenweise angehoben. Die Unterscheidbarkeit der modifizierten Signale zeigte sich in starkem Maß abhängig sowohl von der Gruppenlaufzeit als auch vom absoluten Pegel der dargebotenen Stimuli.

Unter dem Eindruck dieser Ergebnisse kommen Lee/Geddes u.a. zu dem Schluss, daß für die Bewertung der Dynamikgrenzen, innerhalb derer ein Lautsprechersystem gehörmäßig als "verzerrungsarm" eingestuft werden kann, die bisherige isolierte Betrachtung nichtlinearer Verzerrungen (Klirr) nicht ausreichend ist, da die Wahrnehmung des Gehörs auch für lineare Formen der Verzerrung, namentlich des Amplitudenfrequenzgangs und der Gruppenlaufzeit, stark pegelabhängig ist.

Erst eine gemeinsame Betrachtung von GLZ- und harmonischen Verzerrungen liefert Hinweise auf den realen Dynamikumfang eines Lautsprechers, der unter Beibehaltung hoher Übertragungsqualität genutzt werden kann. Das Gehör reagiert bereits bei Pegeln von 80 dB deutlich empfindlicher auf GLZ Verzerrungen als etwa unterhalb 74 dB. Dies liefert eine Erklärung dafür, warum manche Lautsprecher ab einem bestimmten Pegel gehörmäßig "unangenehm" werden, selbst wenn die jeweilige Raumakustik und andere Rahmenbedingungen gut sind, und sich die nichtlinearen Verzerrungen innerhalb der gesamten Übertragungskette noch in moderaten Grenzen bewegen.

Ein weiterer Anhaltspunkt für die Relevanz von GLZ Verzerrungen ist in deren Zusammenwirken mit bereits im Signal vorhandenen harmonischen Verzerrungen (Klirr) zu sehen, was zu deutlich wahrnehmbaren Klangverfärbungen führen kann. Für dieses durch Schröder/Mehgart [4] erstmals für die Sprachsignalverarbeitung beschriebene Phänomen möchte ich eine anschauliche Beschreibung im Hinblick auf seine Relevanz für die Musikwiedergabe anbieten, welche sicher noch zu präzisieren ist:

Innerhalb der gesamten Übertragungskette von der Musikaufnahme bis zum Wiedergabelautsprecher im Hörraum sammeln sich harmonische Verzerrungen (Klirr) an. Dies beginnt beim Aufnahmemikrofon und seinem Verstärker, dem Mischpult und dem Aufzeichnungsverfahren selbst.

Für den größten Teil dieser nichtlinearen Verzerrungen ist normalerweise der Wiedergabelautsprecher verantwortlich, jedoch ist auch davor bereits ein nennenswertes Maß an Klirr sowohl auf der produzierenden als auch auf der reproduzierenden Seite der Übertragungskette entstanden, was als Realität der Musikreproduktion gesehen werden muss.

Hat der Wiedergabelautsprecher nun eine diskontiniuerliche Gruppenlaufzeit, so wird dadurch die Hüllkurve des Ausgangssignals gegenüber dem Eingangssignal, nehmen wir eine angezupfte Gitarrensaite als Beispiel, verändert. Dies kann im Beispiel dazu führen, daß harmonische Verzerrungskomponenten den Lautsprecher in einer deutlich unterschiedlichen Zeitspanne durchlaufen, als der Grundton der Gitarrensaite. Der Grundton wiederum durchläuft den Lautsprecher in einer anderen Zeitspanne als die natürlichen Oberwellen des Gitarrenklangs, welche wiederum zum Teil auf gleichen oder benachbarten Frequenzen liegen können wie einige der technisch bedingten Verzerrungsprodukte.

Bereits im Eingangssignal vorhandene Verzerrungskomponenten und solche, die im Lautsprecher selbst erzeugt werden, können nun in bestimmten Abschnitten der durch GLZ Verzerrungen deformierten zeitlichen Hüllkurve angereichert werden. Dies führt ab einem gewissen Schallpegel zu einer wahrnehmbaren Verfremdung des Originalklangs. Der enstehende Klang weicht in seinem spektralen Verlauf über der Zeit vom typischen und bekannten Klang einer angezupften Gitarrensaite ab. Je nach seinem individuellen Verzerrungsprofil aus nichtlinearen und GLZ Verzerrungen, kann ein Lautsprecher ernste Probleme mit der gehörmäßig unverzerrten Wiedergabe ganzer Klassen von Schallereignissen haben. Die so entstehenden Abweichungen vom ursprünglichen Schallereignis werden mit steigendem Schalldruckpegel immer deutlicher wahrnehmbar.

Ein Durchschlagen der beschriebenen Effekte auf die klangästhetische Bewertung eines Lautsprechers durch Testhörer erscheint unvermeidlich: Besonders der "Tonbeginn" innerhalb der Hüllkurve, stellt ein wichtiges Merkmal für die Erkennung eines bestimmten Instrumentenklangs dar. Abweichungen im Spektrum des Tonbeginns und anderen Bereichen der Hüllkurve werden ab einem gewissen Pegel
auffällig, weil die harmonischen Verzerrungsprodukte durch die zusätzlich eintretende Laufzeitverschiebung nicht mehr in gleichem Umfang gehörmäßig maskiert werden, wie dies ohne GLZ-Verzerrungen der Fall wäre. Als Folge kann die Wiedergabe ab einem bestimmten Pegel ins Unangenehme umschlagen und u.a. als "rauh", "aufdringlich" oder "untransparent" empfunden werden, je nach individuellem Verzerrungsprofil des Lautsprechers.

Unter dem Eindruck der Ergebnisse aus [2], [3] und [4] ergeben sich konkrete Anforderungen an die Eigenschaften qualitativ hochwertiger Schallwandler im Hinblick auf die Minimierung sowohl nichtlinearer als auch linearer Verzerrungen. Insbesondere spielen GLZ Verzerrungen aufgrund ihres Zusammenspiels mit anderen Verzerrungsarten eine besondere Rolle:

GLZ Verzerrungen sind nicht nur aus sich selbst heraus mit steigendem Pegel immer deutlicher hörbar, sondern ihr Vorhandensein beinflusst auch die Wahrnehmbarkeit anderer Verzerrungsarten in deutlicher und unerwünschter Weise.

Es genügt daher nicht, allein die harmonischen Verzerrungen besonders innerhalb kritischer Frequenzbereiche zu minimieren, sondern der Verlauf der Gruppenlaufzeit ist zwingend in die Betrachtung miteinzubeziehen. Erst ein niedriges Niveau an harmonischen Verzerrungen gemeinsam mit einer möglichst konstanten oder zumindest flach verlaufenden Gruppenlaufzeit ermöglicht einem Schallwandler auch bei höheren Pegeln (>74dB) die gehörmäßig unverzerrte Darstellung komplexer Signale.

Nachfolgend ist die Gruppenlaufzeit des Vollbereichs-Biegewellenwandlers dargestellt, welcher im "Model 2" - System aus eigener Entwicklung und Fertigung zum Einsatz kommt. Der Frequenzbereich von 500 Hz ... 10 Khz würde dabei den neuen Anforderungen des IRT München unterliegen:


Gruppenlaufzeit Vollbereichs Biegewellenlautsprecher "Model 2"


Gruppenlaufzeit, X-Achse: Frequenz [Hz], Y-Achse: Gruppenlaufzeit [ms]

Das hier gemessene Labormuster ist bereits ohne jegliche Kompensationsmaßnahmen in der Lage, die aktuellen Empfehlungen für Monitorlautsprecher im Hinblick auf GLZ-Verzerrungen im gesamten geforderten Frequenzbereich weitestgehend zu erfüllen und im besonders kritischen Frequenzbereich von 900 Hz bis 4 Khz  z.T. sogar zu übertreffen. Wichtig ist hier nicht der absolute Wert der Gruppenlaufzeit, sondern deren relative Schwankung mit der Frequenz. Diese verläuft beim gezeigten Schallwandler sehr gleichförmig und liegt im geforderten Frequenzbereich oft um eine Größenordnung unterhalb üblicher Werte von dynamischen Mehrwegelautsprechern.

                                       

[1] Blauert, J.; Laws, P.: Group Delay Distortions in Electroacoustical Systems. J. Acoust. Soc. Am., Vol. 63, No. 5, 1978, pp. 1478-1483.

[2] Goossens, S.: Wahrnehmbarkeit von Phasenverzerrungen. IRT München.

[3] Lee, L.W.; Geddes E.R.: Audibility of Linear Distortion with Variations in Sound Pressure Level and Group Delay. AES Convention 2006.

[4] Schroeder; Mehgart: Auditory masking in the perception of speech.