Es
besteht ein alter Widerstreit zwischen verschiedenen Schulen des
Entwurfs von Lautsprechersystemen darüber, inwieweit
Verzerrungen der
Gruppenlaufzeit
(GLZ) hörbar sind.
Allmähliche Phasendrehungen innerhalb des
Hörfrequenzbereiches scheinen harmlos zu sein,
während
ausgeprägte Diskontinuitäten der GLZ in bestimmten
Frequenzbereichen deutliche Veränderungen der
wahrgenommenen
Qualität des Signals bewirken können. Bis zu welcher Schwelle
Schwankungen der GLZ dabei ohne Auswirkungen auf die empfundene
Klangqualität bleiben, geht aus unterschiedlichen Untersuchungen
innerhalb der
letzten
Jahrzehnte nicht eindeutig hervor. Unser
Gehör
ist für GLZ Verzerrungen nicht in allen Frequenzbereichen
gleich
empfindlich. Die oft als Maßstab herangezogenen
Untersuchungen
von Blauert/Laws [1] kommen zu den folgenden
frequenzabhängigen
Schwellenwerten:
500 Hz | 3,0 ms |
900 Hz
bis 3 Khz | 0,5 ms |
4 Khz |
0,4 ms |
7 Khz | 1,1 ms |
Die Form der Darbietung der Signale, etwa über Kopfhörer
oder
über Lautsprecher, die Qualität der Raumakustik bei
Lautsprecherwiedergabe sowie der Charakter der dargebotenen Signale
selbst führen u.a. zu Abweichungen zwischen
unterschiedlichen
Untersuchungen. Das
Institut für Rundfunktechnik in München
(IRT)
kommt jedoch in einer neueren Studie
[2] zur Wahrnehmbarkeit von GLZ
Verzerrungen zu einer außerordentlich strengen Empfehlung
für die Konstanz der Gruppenlaufzeit künftiger
Regielautsprecher.
Die
genannte Studie gibt auch einen kurzen Überblick über die in
vorangegangenen Experimenten ermittelten Schwellenwerte und deren z.T.
erhebliche Abweichungen untereinander. Laut IRT Studie sollen
Regielautsprecher im Frequenzbereich 500 Hz ... 10 Khz eine
Abweichung der Gruppenlaufzeit
von maximal +/- 0,2 ms aufweisen. Dies ist ein Wert, der mit
üblichen dynamischen Mehrwegelautsprechern in der Praxis kaum
einzuhalten ist.
Die
festgelegte Schwelle wird im angegebenen Frequenzbereich mit
üblicher
Lautsprechertechnik leicht um ein Vielfaches überschritten. Die
Streuung in den bisher
für GLZ Verzerrungen gefundenen Wahrnehmungsschwellen legt
jedoch
die Vermutung nahe, daß weitere Faktoren für die
Hörbarkeit von GLZ Verzerrungen existieren, welche bisher nicht
genau genug umrissen wurden. Ein von Lee/Geddes
[3] durchgeführtes
Wahrnehmungsexperiment ist in diesem Zusammenhang besonders interessant: Es
wurden vergleichende Tests der Wahrnehmbarkeit veränderter
Gruppenlaufzeit bei gleichzeitiger Anhebung des Hochtonbereiches
durchgeführt. Dabei wurden Hochtonanhebung und Gruppenlaufzeit variiert. Die Wahrnehmungsschwellen für das
Vorhandensein der so charakterisierten Kammfilter im Signalweg wurden
gegenüber dem unveränderten Stimulus ermittelt.
In
mehreren Durchgängen wurde dabei der absolute Schallpegel im
Gehörkanal von 71dB bis 80dB stufenweise angehoben. Die
Unterscheidbarkeit der modifizierten Signale zeigte sich in starkem
Maß abhängig sowohl von der Gruppenlaufzeit als auch
vom absoluten Pegel der dargebotenen Stimuli.
Unter dem Eindruck
dieser
Ergebnisse kommen Lee/Geddes u.a. zu dem Schluss, daß für
die Bewertung der
Dynamikgrenzen,
innerhalb derer ein Lautsprechersystem
gehörmäßig als
"verzerrungsarm" eingestuft werden kann, die bisherige isolierte
Betrachtung nichtlinearer Verzerrungen (Klirr) nicht ausreichend
ist, da die Wahrnehmung des Gehörs auch für lineare Formen
der Verzerrung, namentlich des Amplitudenfrequenzgangs und der Gruppenlaufzeit, stark
pegelabhängig ist.
Erst eine
gemeinsame
Betrachtung von GLZ- und harmonischen Verzerrungen liefert Hinweise auf
den realen Dynamikumfang eines Lautsprechers, der unter Beibehaltung
hoher
Übertragungsqualität genutzt werden kann. Das
Gehör
reagiert bereits bei Pegeln von 80 dB deutlich
empfindlicher
auf GLZ Verzerrungen als etwa unterhalb 74 dB. Dies
liefert eine Erklärung dafür, warum manche
Lautsprecher ab
einem bestimmten Pegel gehörmäßig
"unangenehm" werden,
selbst wenn die jeweilige Raumakustik und andere Rahmenbedingungen gut sind, und sich
die nichtlinearen Verzerrungen innerhalb der gesamten
Übertragungskette noch in moderaten Grenzen bewegen.
Ein
weiterer Anhaltspunkt für die Relevanz von GLZ Verzerrungen ist in
deren Zusammenwirken mit bereits im Signal vorhandenen harmonischen
Verzerrungen (Klirr) zu sehen, was zu deutlich wahrnehmbaren Klangverfärbungen führen kann. Für dieses durch
Schröder/Mehgart
[4] erstmals für die Sprachsignalverarbeitung beschriebene
Phänomen möchte ich eine anschauliche Beschreibung im
Hinblick auf seine Relevanz für die Musikwiedergabe anbieten,
welche sicher noch zu
präzisieren ist:
Innerhalb
der gesamten Übertragungskette von der Musikaufnahme bis
zum
Wiedergabelautsprecher im Hörraum sammeln sich harmonische
Verzerrungen (Klirr) an. Dies beginnt beim Aufnahmemikrofon und
seinem Verstärker, dem Mischpult und dem Aufzeichnungsverfahren
selbst.Für
den größten Teil dieser nichtlinearen Verzerrungen ist
normalerweise
der
Wiedergabelautsprecher verantwortlich, jedoch ist auch davor bereits
ein nennenswertes Maß an Klirr sowohl auf der produzierenden als
auch auf der reproduzierenden Seite der Übertragungskette
entstanden, was als Realität der Musikreproduktion gesehen werden
muss.Hat
der Wiedergabelautsprecher nun eine diskontiniuerliche Gruppenlaufzeit, so wird
dadurch die Hüllkurve des Ausgangssignals gegenüber dem Eingangssignal, nehmen wir eine
angezupfte
Gitarrensaite als Beispiel, verändert. Dies
kann im Beispiel dazu führen, daß harmonische
Verzerrungskomponenten den Lautsprecher in einer deutlich
unterschiedlichen Zeitspanne durchlaufen, als der Grundton der
Gitarrensaite. Der Grundton wiederum durchläuft den
Lautsprecher
in einer anderen Zeitspanne als die natürlichen Oberwellen des
Gitarrenklangs, welche wiederum zum Teil auf gleichen oder benachbarten Frequenzen
liegen können wie einige der technisch bedingten
Verzerrungsprodukte.Bereits
im Eingangssignal vorhandene Verzerrungskomponenten und solche, die im
Lautsprecher selbst erzeugt werden, können nun in bestimmten
Abschnitten der durch GLZ Verzerrungen deformierten zeitlichen
Hüllkurve angereichert werden. Dies führt ab einem
gewissen Schallpegel zu einer wahrnehmbaren Verfremdung des
Originalklangs. Der
enstehende
Klang weicht in seinem spektralen Verlauf über der Zeit vom
typischen und bekannten Klang einer angezupften Gitarrensaite ab. Je nach seinem
individuellen Verzerrungsprofil aus nichtlinearen und GLZ
Verzerrungen, kann ein Lautsprecher ernste Probleme mit der gehörmäßig
unverzerrten Wiedergabe ganzer Klassen von Schallereignissen haben. Die
so entstehenden Abweichungen vom ursprünglichen Schallereignis
werden mit steigendem Schalldruckpegel immer deutlicher wahrnehmbar.
Ein
Durchschlagen der beschriebenen Effekte auf die klangästhetische
Bewertung eines Lautsprechers durch Testhörer erscheint
unvermeidlich: Besonders der "Tonbeginn"
innerhalb der
Hüllkurve, stellt ein wichtiges Merkmal für die
Erkennung
eines bestimmten Instrumentenklangs dar. Abweichungen im Spektrum
des Tonbeginns und anderen Bereichen der Hüllkurve werden ab
einem
gewissen Pegel
auffällig,
weil die harmonischen Verzerrungsprodukte durch die zusätzlich
eintretende Laufzeitverschiebung nicht mehr in gleichem Umfang gehörmäßig maskiert werden,
wie dies ohne GLZ-Verzerrungen der Fall wäre. Als
Folge kann die Wiedergabe ab
einem bestimmten Pegel ins Unangenehme umschlagen und u.a. als "rauh",
"aufdringlich" oder "untransparent" empfunden werden, je nach
individuellem Verzerrungsprofil des Lautsprechers.Unter
dem Eindruck der Ergebnisse aus [2], [3] und [4] ergeben sich konkrete Anforderungen an die Eigenschaften qualitativ
hochwertiger Schallwandler im Hinblick auf die Minimierung sowohl
nichtlinearer als auch linearer Verzerrungen. Insbesondere spielen GLZ
Verzerrungen aufgrund ihres Zusammenspiels mit anderen Verzerrungsarten
eine besondere Rolle:
GLZ Verzerrungen sind nicht nur aus sich selbst heraus mit steigendem Pegel
immer deutlicher hörbar, sondern ihr Vorhandensein beinflusst auch
die Wahrnehmbarkeit anderer Verzerrungsarten in deutlicher und
unerwünschter Weise.
Es
genügt daher nicht, allein die harmonischen Verzerrungen besonders
innerhalb kritischer Frequenzbereiche zu minimieren, sondern der
Verlauf der Gruppenlaufzeit ist zwingend in die Betrachtung
miteinzubeziehen. Erst ein niedriges Niveau an harmonischen
Verzerrungen gemeinsam mit einer möglichst konstanten oder
zumindest flach verlaufenden Gruppenlaufzeit ermöglicht einem
Schallwandler auch bei höheren Pegeln (>74dB) die
gehörmäßig unverzerrte Darstellung
komplexer Signale.
Nachfolgend
ist die Gruppenlaufzeit des Vollbereichs-Biegewellenwandlers dargestellt, welcher im
"Model
2" - System aus eigener Entwicklung und Fertigung zum Einsatz kommt. Der Frequenzbereich von 500 Hz ...
10 Khz würde dabei den neuen Anforderungen des IRT München unterliegen:
Gruppenlaufzeit, X-Achse: Frequenz [Hz], Y-Achse: Gruppenlaufzeit [ms]
Das hier gemessene Labormuster ist bereits
ohne jegliche Kompensationsmaßnahmen
in der Lage, die
aktuellen Empfehlungen für Monitorlautsprecher im Hinblick auf
GLZ-Verzerrungen im gesamten geforderten Frequenzbereich weitestgehend
zu erfüllen und im besonders kritischen Frequenzbereich von 900 Hz
bis 4 Khz z.T. sogar zu übertreffen. Wichtig ist hier nicht
der absolute Wert der Gruppenlaufzeit, sondern deren relative
Schwankung mit der Frequenz. Diese verläuft beim gezeigten
Schallwandler sehr gleichförmig und liegt im geforderten
Frequenzbereich oft um eine Größenordnung unterhalb
üblicher Werte von dynamischen Mehrwegelautsprechern.
[1]
Blauert, J.; Laws, P.: Group Delay Distortions in Electroacoustical
Systems. J. Acoust. Soc. Am., Vol. 63, No. 5, 1978, pp. 1478-1483.
[2]
Goossens, S.: Wahrnehmbarkeit von Phasenverzerrungen. IRT
München.
[3]
Lee, L.W.; Geddes E.R.: Audibility of Linear Distortion with Variations
in Sound Pressure Level and Group Delay. AES Convention 2006.
[4] Schroeder; Mehgart: Auditory masking in the perception of speech.